Mir scheint, das UNterwegssein auf Reisen ersetzt unsereinem jene Betätigung des rein ästhetischen Triebes, der unseren Völkern beinahe völlig abhandengekommen ist, den die Griechen und die Römer und die Italiener der großen Zeiten hatten und den man noch etwas in Japan findet, wo kluge und keineswegs kindische Menschen es verstehen, am Betrachten eines Holzschnitts, eines Baumes oder Felsens, eines Gartens, einer einzelnen Blume die Übung, Reife und Kennerschaft eines Sinnes zu genießen, der bei uns selten und schwach ausgebildet erscheint. Das reine Schauen, das von keinem Zwecksuchen und Wollen getrübte Betrachten, die in sich selbst begnügte Übung von Auge, Ohr, Nase, Tastsinn, das ist ein Paradies, nach dem die Feineren unter uns tiefes Heimweg haben, und beim Reisen ist es, wo wir dem am besten und reinsten nachzugehen vermögen. Die Konzentration, die der ästhetisch Geübte jederzeit sollte hervorrufen können, glückt uns Ärmeren wenigstens in diesen Tagen und Stunden der Losgebundenheit, wo keine Sorge, keine Post, kein Geschäft aus der Heimat und dem Alltag uns nachlaufen kann. In dieser Reisestimmung vermögen wir, was wir daheim selten vermögen, stille, zwecklose, dankbare Stunden vor ein paar herrlichen Bildern hinzubringen, hingerissen und offen den Wohlklang edler Bauwerke zu vernehmen, innig und genießerisch den Linien einer Landschaft nachzugehen. Hermann Hesse, 1913
Die Deutsche Bahn mag mich nicht. Oder genauer, sie mag es nicht, wenn ich nach K., in die andere große Stadt am Rhein, fahren möchte. Einige diesbezügliche Versuche von mir in der Vergangenheit endeten oft frustrierend, meistens überraschend und stets nicht in K.
Aber da will, da muss ich heute hin. Denn in K. ist der Flughafen, von dem der Flieger startet, der mich nach Italien bringt. Also mache ich mir die Deutsche Bahn gnädig und kaufe eine Fahrkarte für das langsamste, lähmendste Verkehrsmittel zu meinem Ziel, die S-Bahn. Mit diesem Opfer wähne ich eine gewisse Gefügigkeit einzukaufen, die Bereitschaft, es dieses Mal nicht so schlimm mit mir zu treiben. Und tatsächlich trägt mich die S-Bahn zu meinem Ziel. Nicht ohne Zwischenhalte und Umsteigestationen, natürlich nicht. So habe ich an diesem sonnigen und nicht zu kühlen Sonntagmittag ausgiebig Gelegenheit, mich von der Schönheit der Außenbezirke von Leverkusen zu überzeugen.
Vieles an kleinen Städten in der deutschen Provinz ist ein Graus: die ausfransenden
Stadtränder, die geschmacklos umgebauten Häuser, die ineinandergeschachtelten
Gewerbegebiete. Diese Gegenden sind amorph, unsortiert, ohne den Willen zu Ordnung,
Geschmack oder Urbanität. Aber heute dienen sie mir zur innerlichen Vorbereitung auf den Vorstadthorror in Italien. Auf den unbedingten Willen, in der hässlichsten Umgebung der Einfallstraßen neu erbaute Glaspaläste leerstehen zu lassen. Auf die verwaisten und verwahrlosten Parkplätze von Schwimmbädern, die kurz nach deren Eröffnung bereits wieder verrammelt sind. All dieses verschwimmt am Rande der italienischen Stadt ineinander, fliegt ohne Unterlass an der Landstraße am Autofenster vorbei, getrennt nur von schlecht asphaltieren Zufahrten und eingesprenkelten alten schmutzigen Wohnhäusern. Es ist der Gegenentwurf zur Stadt, zur geschlossenen Architektur, vielleicht ein Ausdruck des Überdrusses an Stil, vielleicht auch nur der Bereitschaft, sich den Stil lieber für zu Hause aufzusparen. Oder der Gleichgültigkeit, wenn es nicht so drauf ankommt.
So greife ich gedanklich voraus, in dem Wissen, mir dies in wenigen Stunden wieder ansehen zu können. Ein geschäftlicher Termin in Norditalien im Mai - nun es gibt schlimmeres. Die Anzeigetafel am Flughafen gibt die Richtung vor, mein Ziel führt auf der Temperaturskala.
In Bologna ist es früher Nachmittag, leicht bewölkt aber freundlicherweise deutlich wärmer als in Deutschland. Kein Anflug von italienischer Behäbigkeit bei der Gepäckausgabe, dafür ein deutlicher Anflug von italienischem Leben im Flughafencafe, denn dort gab es den ersten Espresso und damit ist alles wieder im Lot. Es ist ein Gefühl, in der Ferne anzukommen wie in der Heimat. Dabei ist es keine Heimat. Nur ein Espresso. Funktioniert trotzdem.
Der bereitgestellte Neuwagen findet meine Zustimmung und auch die der übrigen Autofahrer auf der SS 9, der uralten Via Emilia, die scheinbar schon immer Mailand mit Rimini verbindet. Diesmal bereise ich sie in die entgegengesetzte Richtung, mit dem Ziel Modena. Früher führte diese Hauptverkehrsachse direkt durch die Städte, die wie an einer Perlenschnur an ihr aufgereiht liegen, heute aber haben die Italiener ihr Herz für die Tangentiale entdeckt und damit der Lebensqualität in den Städten deutlich Vorschub geleistet. Die Tangentiale darf man sich als schlaglochgesprenkelte Ringstraße mit Autobahncharakter vorstellen, einmal um die Stadt in sicherem Abstand zum centro storico, auf der die Italiener mit ihren Alfa ein wenig Nuvolari spielen. Also denkbar problemloses und rasches Vorankommen, durch die Vorstadthölle und dann westlich der Altstadt von Modena auf einen großen Parkplatz. Normalerweise jedenfalls, denn dort ist heute - es ist ja Sonntag - der Antikmarkt. Meinen geliebten Mercedes-Oldtimer hätte ich dort direkt dazugestellt, aber der ist zu Hause und so stelle ich mein Ersatzauto draußen ab und wandere an den Ständen entlang und kaufe - nichts, kein Porzellan, kein Silber, keine Lampen, Bücher, Drucke, Stoffe, Möbel, keine uralten Werkzeuge, keine Oldtimerzeitschriften - halt, doch! Drei. Die Preise der alten, also richtig alten Bücher sind stramm. Aber wenigstens sind diese nicht so leicht zu fälschen wie die Möbel. Nächstes Mal nehme ich einen Dendrochronologen mit. Das ist kein technisches Gerät sondern ein Student.
Von diesem Platz aus sind es zwei Minuten zu Fuß in die Altstadt von Modena, und nur eine weitere Minute bringt mich zu meinem Palast für die nächsten Tage. Wunderbar gelegen mit dem obligatorischen Blick auf die kleine Kirche und ohne Autoverkehr, und hier beziehe ich mein Zimmer im zweiten Stock, mit Stuckdecke, Holzdielen und den schönen Fensterläden. Doch nicht länger als nötig hält es einen Nordeuropäer drinnen, denn draußen spielt das Leben. Es ist Sonntag, und die Italiener feiern ein religiöses Fest mit Prozession durch die Altstadt. Würdig schreiten die Kirchenmänner vorneweg, mit erhobenem Kreuz, würdig schreitet an beiden Straßenrändern das Volk hinterher. Würdig biegen alle zusammen auf die Via Emilia und dann zum Dom ab und feiern dort weiter. Ich feiere lieber mein eigenes kleines Fest mit einem Martini in dem kleinen Cafe unter den Arkaden an der Via Emilia Est und dann in einer der wenigen heute geöffneten Trattorien mit Pasta und Lambrusco.
Ein zweiter Rundgang durch die Stadt, es ist draußen noch hell, führt mich gegen 9 in den Dom. Drinnen in diesem romanischen Wunderwerk aus dem 11. Jahrhundert ist es aber dunkel, die Tiefe des Raumes verliert sich in der Schwärze, nur von diffusem Licht der schmalen Fenster ganz schwach erhellt, und am schwach erleuchteten Terrakotta-Altar der S. Caterina an der linken Wand des Doms haben sich wenige Menschen versammelt und beten einen Ritus der Hl. Maria, mit Vorsprecher, und ansonsten ist es ganz still. Um genau halb 10 ist die Anbetung beendet, die Herrschaften erheben sich und gehen, und zugleich mit dem Schlag des Uhrenturms dröhnt Rockmusik in den Dom hinein. Auf der Piazza direkt am Dom ist ein Konzert, mit großer Bühne und Show, ein paar hundert Menschen haben sich schon zum Feiern versammelt aber solange im Dom gebetet wird ist Ruhe, ich bilde mir ein aus Rücksicht statt auf Befehl, danach erst geht es los. Und wie. Der nun wolkenlose Himmel dunkelt langsam von mittelblau nach dunkelblau nach schwarz, unten ist es warm und gerade richtig ein wenig windig und die orangen Lampen tauchen die Piazza in ihr italienisches Licht, und vorne explodiert die Rockband. Eine Schande, dass keine Touristen da sind. Ihnen würde Italien plötzlich noch mehr gefallen. Und ich gehe in der Dunkelheit nach Hause.
Willkommen in Modena.